Das düstere Erbe der Diktatur

Das ganze 20. Jahrhundert hindurch spielte das Militär eine große Rolle in der Politik der meisten lateinamerikanischen Länder. Argentinien ist ein markantes Beispiel, weil seine Militärdiktatur besonders brutal war. Auch drei Jahrzehnte nach ihrem Ende sind die Beziehungen zwischen den Streitkräften und der Gesellschaft immer noch angespannt.

Ein Bericht des Meinungsforschungsinstituts Latinobarómetro aus dem Jahr 2017 zeigte, dass die öffentliche Meinung in Argentinien über die Streitkräfte polarisiert ist. Laut der Studie vertrauen nur 50 % der Menschen dem Militär. Offenbar wird es nicht nur als Schutzinstitution, sondern auch als Bedrohung wahrgenommen.

Die Militärherrschaft war in Argentinien mörderisch. Die Generäle ergriffen 1976 die Macht und ihr Regime fiel erst nach der Niederlage im Malvinas (Falklandkrieg) 1983. Beeinflusst von den USA, förderten sie einen konservativen Nationalismus und gaben vor, den Status quo zu schützen. Sie lehnten jede Art von Umverteilung von Einkommen und Vermögen ab, und selbst liberale Kräfte wurden als vermeintlich linke Aufständische gejagt. Experten schätzen, dass ihr Staatsterrorismus etwa 30.000 Menschenleben forderte. Zum Vergleich: In Chile, wo die Militärherrschaft viel länger andauerte, tötete die Repression etwa 4.500 Menschen. Heute leben in Argentinien fast 45 Millionen und in Chile 18 Millionen Menschen.

Nach dem Zusammenbruch der letzten argentinischen Militärjunta im Jahr 1983 standen die verschiedenen Regierungen vor einem grundsätzlichen Problem: Sie mussten entscheiden, wie sie mit den Streitkräften umgehen wollten. Laut Paula Canelo, Soziologieprofessorin an der Universität von Buenos Aires, bedeutete dies, die „militärische Frage“ zu lösen. Mit den Auswirkungen der Militärherrschaft musste irgendwie umgegangen werden. Canelo sagt, dass „die Streitkräfte historisch eine klare Tendenz gezeigt hatten, ihre eigenen Definitionen von ihrem Zweck, ihrer Doktrin und ihrer Mission zu schaffen“. Diese Mission richtete sich typischerweise gegen eine innere Bedrohung, nicht gegen eine äußere.

Der Soziologe sieht auch „eine entscheidende Bedeutung in der Tatsache, dass sich die Streitkräfte absolut kompromittiert haben, indem sie schwere Verbrechen begangen haben“. Infolgedessen werden sie noch immer „von einem Teil der Zivilgesellschaft völlig abgelehnt“. Kriminelle Handlungen und die Niederlage im Malvinas-Krieg stürzten die Streitkräfte in eine tiefe Krise.

Neue soziale Bewegungen

Bereits mit der ersten demokratisch gewählten Regierung war klar, dass jeder Versuch, die „militärische Frage“ anzugehen, sich auf die Menschenrechte konzentrieren musste. Grund dafür war der Druck zahlreicher Aktivistengruppen, deren prominenteste die „Mütter der Plaza de Mayo“ waren. Diese Organisation forderte Informationen über das Schicksal vermisster Angehöriger.

Canelo argumentiert, dass Präsident Raúl Alfonsín (1983 – 1989) eine kleine Gruppe von Tätern zu exemplarischen Strafen verurteilt sehen wollte, damit der Rest der militärischen Institutionen von der Schuld freigesprochen werden konnte. Der entsprechende Prozess, der 1985 stattfand, ist als „Juicio a las Juntas“ (Abrechnung mit den Juntas) bekannt.

Im Jahr 1986 verabschiedete die Regierung Alfonsín das „Ley de Punto Final“ (Schlusspunktgesetz). Es sollte sicherstellen, dass die Liste der angeklagten Täter nicht weiter anwächst. Dennoch gab es einen ständigen Strom neuer Anklagen, und das führte zu einer Reihe von Militärrebellen. Sie richteten sich, so Canelo, „gegen die ‚Progressiven‘ im Militär und in der Regierung, die als unfähig galten, eine Generalamnestie aufrechtzuerhalten“. Unter diesem Druck wurde 1987 das Ley de Obediencia Debida (Gesetz des gebotenen Gehorsams) verabschiedet. Es befreite alle unteren Ränge von der Strafverfolgung für alle Verbrechen, die während des „schmutzigen Krieges“ begangen wurden, sofern sie nicht als „Exzesse“ galten.

Das Militär hatte damit sein Ziel erreicht, aber die Mehrheit der Argentinier betrachtete die Gesetzgebung als Verrat an dem Versprechen, dass Recht und Gerechtigkeit herrschen würden. Die Menschen demonstrierten vor den Kasernen gegen die Militärs und zeigten ihre Entschlossenheit, die neue Demokratie zu verteidigen.

Die Regierung von Carlos Menem (1989 – 1999) beschloss, die Vergangenheit ruhen zu lassen, was die Streitkräfte betraf. Sie erließ 1991 eine Amnestie für die Diktatoren der Junta und leitete damit eine Phase großer Harmonie zwischen Regierung und Armee ein. Laut dem Soziologen Canelo wurden „die neuen Chefs der Streitkräfte gestärkt“. Strafverfahren wurden auf Eis gelegt, und staatliche Stellen zeigten kein Interesse mehr an Menschenrechtsverletzungen.

Die Dekrete der Regierung versöhnten die Streitkräfte jedoch nicht mit der Gesellschaft. Im Gegenteil, sie lösten Widerstand aus und ließen neue soziale Bewegungen entstehen. Die bekannteste Organisation ist HIJOS (Hijos e Hijas por la Identidad y la Justicia contra el Olvido y el Silencio – Söhne und Töchter für Identität und Gerechtigkeit gegen das Vergessen und Schweigen). Zu ihren Aktivitäten gehört die öffentliche Benennung und Beschämung von Militärs, die an den Verbrechen der Diktatur beteiligt waren. Die HIJOS schufen damit eine Form der öffentlichen Gerechtigkeit, die das Justizsystem nicht hatte leisten können.

Wichtiger Verbündeter der USA

Die folgenden Jahre waren geprägt von der militärischen Niederlage im Krieg um die Malvinas-Inseln (1982) und einer steigenden Staatsverschuldung. Argentinien musste eine harte Strukturanpassungspolitik betreiben, die vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank ausgearbeitet wurde. Die öffentlichen Ausgaben wurden gekürzt, die Wirtschaft wurde dereguliert und dem Weltmarkt geöffnet. Gleichzeitig änderten sich die militärischen Allianzen des Landes. Präsident Menem zog Argentinien aus der Bewegung der Blockfreien zurück, knüpfte enge Beziehungen zu den USA und trat 1990/91 der internationalen Allianz für den Golfkrieg bei.

Argentinien beteiligt sich seitdem mit Soldaten an UN-Friedensmissionen in fernen Ländern wie Zypern, Kuwait, Kosovo und Libyen. Diese neue Rolle der Streitkräfte auf der Weltbühne wird als „aktives Engagement“ bezeichnet. Diese Politik hat Argentinien zu einem der wichtigsten Verbündeten der Vereinigten Staaten außerhalb der NATO gemacht.

Während diese neuen internationalen Allianzen geschmiedet wurden, wurde der Verteidigungshaushalt jedoch gekürzt. Er ist immer noch vergleichsweise gering. Zudem wurde ein neues Verteidigungsgesetz erlassen, das die Verteidigung gegen äußere Bedrohungen strikt von Fragen der inneren Sicherheit trennt. Die Streitkräfte sollen sich ausschließlich auf die Landesverteidigung beschränken und dürfen nur zur Abwehr militärischer und äußerer Bedrohungen eingesetzt werden. Sie dürfen sich grundsätzlich nicht in Fragen der inneren Sicherheit einmischen.

Dieses Prinzip wird leider nicht konsequent durchgesetzt. Christian Castillo, Soziologieprofessor an der Universität La Plata, argumentiert, dass zwei Institutionen – die Gendarmería und die Prefectura – alles bekommen haben, was sie brauchen, um soziale Unruhen mit Gewalt zu unterdrücken. Semi-militärisches Handeln ist also nach wie vor möglich, wenn es um Fragen der inneren Sicherheit wie Drogenhandel, Terrorismus, organisierte Kriminalität, Waffenschmuggel und ethnische Konflikte geht. Angesichts der traumatischen Vergangenheit des Landes ist es nicht verwunderlich, dass viele Bürger mit diesem Szenario unzufrieden sind.

Weitere Anklagen

Nach der verheerenden Finanzkrise Argentiniens in den Jahren 2001/02 wurde der Verteidigungshaushalt weiter gekürzt. Zudem drängten Menschenrechtsgruppen darauf, dass die Verbrechen der Diktatur erneut verfolgt werden. Die Prozesse wurden wieder aufgenommen. Zwischen 2007 und 2016 wurden rund 1000 Angehörige des Militärs und der Sicherheitskräfte vor Gericht gestellt, rund 300 Schuldsprüche wurden gefällt. In den Augen des Soziologen Canelo diente dieser neue Justizaktivismus unter anderem dazu, „die verlorene Legitimität des Staates wiederherzustellen“.

Die Regierungen von Néstor Kirchner (2003 – 2007) und Cristina Kirchner (2007 – 2015) standen dem Militär ambivalent gegenüber. Einerseits ordnete Präsident Néstor Kirchner 2004 in einer symbolträchtigen Zeremonie an, dass alle Fotos ehemaliger Diktatoren und Junta-Generäle von den Wänden der Militärakademie entfernt werden. Gleichzeitig schuf er einen illegalen Spionage- und Geheimdienstapparat.

Seit dem Amtsantritt der neuen Regierung unter Präsident Mauricio Macri im Jahr 2015 wird erneut versucht, Straffreiheit für verurteilte Soldaten zu sichern und polizeiliche Ermittlungen gegen ihre zivilen Komplizen zu unterdrücken. Dies könnte damit zusammenhängen, dass die Familie des amtierenden Präsidenten massiv von der Diktatur profitiert hat. Der Macri-Konzern wuchs in jenen Jahren von sieben auf 47 Unternehmen, die Junta verstaatlichte sogar private Schulden, die sie gemacht hatte.

Im November 2017 verschwand das U-Boot ARA San Juan mit 44 Soldaten an Bord vor der Küste Argentiniens. Seitdem werden von verschiedenen Seiten Stimmen laut, die eine Erhöhung des Militärbudgets fordern. Die Regierung scheint sich jedoch nicht darum zu kümmern.

In den vergangenen dreieinhalb Jahrzehnten haben Argentiniens politische Führer auf verschiedene Weise versucht, eine Antwort auf die drängende – aber immer noch ungelöste – Frage zu finden, welche Rolle das Militär spielen soll. Dennoch hat das Land die während der Diktatur begangenen Menschenrechtsverletzungen bis heute nicht aufgearbeitet.

Sebastián Vargas ist Journalist aus Buenos Aires. Er lebt in München.

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