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In einer nuancierten Analyse der ethischen Bedeutung von medizinisch ungeklärten Symptomen (MUS) macht O’Leary auf eines der wichtigsten Probleme aufmerksam, die die ambulante klinische Praxis betreffen: die Schwierigkeit, MUS zu bewerten und transparent zu behandeln (O’Leary 2018). O’Leary hebt Quellen konzeptioneller Mehrdeutigkeit bei der Charakterisierung von MUS hervor, die die klinische Entscheidungsfindung, die ethische Analyse und den Zugang zu qualitativ hochwertiger Versorgung behindern. Sie kritisiert die Unterbehandlung von biologischen Symptomen bei Patienten mit MUS im Lichte der aktuellen Betonung in der Forschung auf mögliche Schäden einer Überbehandlung. Diese Diskussion wird durch eine stärkere Anerkennung der allgegenwärtigen medizinischen Praxis des „empirischen Behandelns“ bereichert, insbesondere dann, wenn Interventionen geringe Risiken darstellen. Darüber hinaus stellen Fälle, in denen psychogene MUS biologische Symptome von medizinisch erklärten, „organischen“ Störungen begleiten, binäre Vorstellungen im klinischen und ethischen Diskurs über MUS in Frage. In diesem Kommentar bauen wir auf O’Learys Rahmen für die Analyse von MUS auf, indem wir die ethischen Implikationen von: (1) die unscharfe Unterscheidung zwischen Diagnose und Intervention, beschrieben in der Tendenz, „empirisch zu behandeln“, wenn keine definitive Diagnose vorliegt; und (2) das gleichzeitige Auftreten von psychogenen Symptomen und organischen Symptomen, die auf identifizierbare biologische Ursachen zurückzuführen sind.

O’Leary postuliert, dass Kliniker nach dem gegenwärtigen Modell der medizinischen Praxis von der Diagnose zur Behandlung auf der Grundlage der Identifizierung definitiver biologischer Marker einer Krankheit oder eines Leidens vorgehen. Während O’Leary diagnostische Unsicherheit in dieses Modell der medizinischen Praxis einführt, geht ihre Analyse davon aus, dass eine klare Unterscheidung zwischen Diagnose und Therapie gemacht werden kann. Darüber hinaus postuliert sie, dass Kliniker dazu neigen, in Fällen diagnostischer Unsicherheit eine Behandlung zurückzuhalten. Diese Charakterisierung der klinischen Entscheidungsfindung unterschätzt die Vorherrschaft der „empirischen Behandlung“ in der medizinischen Praxis. Häufig leiten Kliniker therapeutische Interventionen ein, ohne eine definitive Diagnose der biologischen Mechanismen, die der Symptompräsentation zugrunde liegen, zu haben. Die antimikrobielle Therapie ist ein anschauliches Beispiel für diesen empirischen Ansatz: Kliniker, die Symptome einer Infektion beobachten, verschreiben möglicherweise Breitbandantibiotika vor oder ohne diagnostische Tests zur Identifizierung eines spezifischen Erregers. In vielen Fällen liefern Labortests lediglich die Gewissheit, dass die Antibiotikaeinnahme fortgesetzt werden sollte, oder weisen auf die Notwendigkeit hin, das Antibiotikum zu wechseln. In der Dermatologie kann eine topische Behandlung als First-Line-Behandlung verschrieben werden. Wenn die topische Behandlung fehlschlägt, helfen diese Informationen bei der Differentialdiagnose. Wenn jedoch die Symptome nach Anwendung der topischen Behandlung verschwinden, ist das Problem für den Patienten gelöst und es sind keine weiteren diagnostischen Untersuchungen notwendig, um zu bestätigen, dass der Arzt richtig geurteilt hat. Die Symptome des Patienten haben sich entweder im Laufe der Zeit oder aufgrund der topischen Behandlung aufgelöst, so dass der Arzt pragmatisch zum nächsten Patienten weitergeht, dessen Symptome aufgelöst werden müssen. Bei der klinischen Beurteilung wägen die Leistungserbringer den diagnostischen Wert von kostenintensiven, belastenden und möglicherweise nicht eindeutigen diagnostischen Tests gegen die Bedenken hinsichtlich der Morbidität bei verzögerter Therapieeinleitung, Effizienz und Pragmatismus ab. Selbst wenn eine empirische antimikrobielle Therapie eine Symptomreduktion oder -auflösung erreicht, können die Pathogenese und der therapeutische Wirkmechanismus einer gegebenen Intervention unklar bleiben.

Wenn eine Therapie sowohl zu diagnostischen als auch zu therapeutischen Zwecken empfohlen wird, ergeben sich andere ethische Herausforderungen in Bezug auf die Festlegung von Erwartungen für das therapeutische Ansprechen und die diagnostische Bezeichnung der Krankheit. Dies kann dazu führen, dass sowohl Patienten als auch andere Kliniker Annahmen über die diagnostische Rechtfertigung von Behandlungsempfehlungen treffen. Psychogene nicht-epileptische Anfälle (PNES) stellen ein wichtiges Beispiel dar. Wenn sich ein Patient mit Symptomen vorstellt, die mit denen einer Epilepsie übereinstimmen, kann ein Arzt empirisch behandeln, indem er ein Antiepilepsie-Medikament (AED) der ersten Wahl verschreibt. Bei vielen dieser Patienten klingen die Anfälle nach der Einnahme des AED für eine gewisse Zeit ab. Der Arzt nimmt fälschlicherweise an, dass die chemische Wirkung des AED die Anfälle vorübergehend zum Abklingen gebracht hat. Wenn die Anfälle des Patienten zurückkehren, wird er „empirisch“ erneut mit einem anderen AED behandelt, da das erste AED zu beweisen schien, dass der Patient auf die medikamentöse Therapie anspricht. Dies ist ein Grund, warum Patienten mit PNES im Durchschnitt über sieben Jahre mit AEDs verbringen, bevor sie richtig diagnostiziert werden (Reuber 2008). Dies ist ein starkes Beispiel für die derzeitige Betonung der Überbehandlung von MUS. Genau wie bei der Epilepsie versuchen die meisten Bereiche der Medizin, zuerst ihre Standardinterventionen anzuwenden, um empirisch zu behandeln, und dann weiter zu forschen, wenn biologische Behandlungen versagen. Obwohl wir O’Learys Argument schätzen, dass es wichtig ist, sicherzustellen, dass psychogene Diagnosen nicht fälschlicherweise den Zugang zu einer benötigten Behandlung ausschließen, müssen wir die potenziellen Schäden erkennen, die einer Kultur der Überbehandlung angesichts der Unsicherheit zuzuschreiben sind.

Bei der Beschreibung eines konzeptionellen Sprungs in der klinischen Entscheidungsfindung von MUS zu psychogenen Diagnosen übersieht O’Leary eine wichtige Quelle der Komplexität: das häufige gemeinsame Auftreten von psychogenen Symptomen und „organischen“ Symptomen medizinisch erklärter Krankheitsprozesse. Zum Beispiel haben 5-60% der Patienten mit PNES eine komorbide Epilepsie (Gordon 2014). Das heißt, unter der Beobachtung der Video-Elektroenzephalographie (VEEG) erleben einige Patienten sowohl PNES als auch epileptische Anfälle. Der Nachweis von psychogenen Symptomen kann dazu führen, dass Kliniker die Validität organischer Befunde in Frage stellen und organische Symptome als psychogen fehldiagnostizieren. Obwohl diese Unsicherheit in der Regel den Zugang zur üblichen und üblichen Behandlung nicht behindert, kann dieser Diagnosefehler die Patienten vom Zugang zu intensiveren Interventionen wie Hirnresektion oder implantierten Elektrostimulatoren ausschließen. Dies unterstreicht, wie wichtig es ist, das Bewusstsein für die mögliche Komorbidität von psychogenen und organischen Erkrankungen zu schärfen. Anstatt Patienten von einer Therapie abzuhalten, sollte die Identifizierung komorbider Erkrankungen dazu führen, dass sowohl psychologische als auch biologische Behandlungen angeboten werden.

Die Schwierigkeit, zwischen psychogenen und organischen Merkmalen auf einer kontinuierlichen Basis zu unterscheiden, trägt zu den Herausforderungen bei, die mit der Erstellung kohärenter Diagnosen und der Fokussierung therapeutischer Bemühungen verbunden sind. Dies kann die informierte Zustimmung besonders schwierig machen, da nicht bekannt sein kann, welche der beiden Diagnosen mehr zu den funktionellen Beeinträchtigungen des Patienten beiträgt. In einer Klinik für Bewegungsstörungen kann sich ein Patient mit einem hartnäckigen Handtremor vorstellen, der teilweise „ablenkbar“ ist. Diese Formulierung deutet auf eine doppelte organische und psychogene Diagnose hin. Der Kliniker muss nun versuchen zu beurteilen, ob ein Verfahren wie die Tiefe Hirnstimulation (DBS), deren Ergebnisse und Wirkmechanismen in erster Linie im Zusammenhang mit organischen und nicht mit psychogenen Bewegungsstörungen verstanden werden, dem Patienten eine Chance gibt, die gewünschte Funktion in seinem Leben wiederzuerlangen. Zusätzliche Aufmerksamkeit für psychogene Komorbiditäten in der Outcomes-Forschung ist notwendig, um die Fähigkeit des Spezialisten für Bewegungsstörungen zu verbessern, evidenzbasierte Empfehlungen für Therapien wie DBS für Patienten mit organischen und psychogenen Diagnosen zu geben.

Schließlich argumentiert O’Leary, dass Kliniker „die Pflicht haben, jedem Patienten, der sie mit einem biologischen Bedürfnis aufsucht, zumindest eine biologische Versorgung anzubieten“ (O’Leary 2018). Diese Aussage ist zu breit und mehrdeutig, um in der klinischen Praxis hilfreich zu sein. Es kann sein, dass O’Leary einfach meint, dass jeder Mensch es verdient, mit einem offenen Geist hinsichtlich der Ursache seiner Krankheit bewertet zu werden. Herauszufinden, was ein Patient tatsächlich braucht, im Gegensatz zu dem, was ein Patient will oder fälschlicherweise glaubt, dass er es braucht, ist ein zutiefst vager und umstrittener Begriff. In der chaotischen Welt der klinischen Medizin ist es die ethische Verpflichtung des Gesundheitsdienstleisters, die gesundheitlichen Bedürfnisse und Wünsche eines jeden Patienten effizient zu entschlüsseln, um ihm zu helfen. Zeit- und Wissensbeschränkungen bedeuten, dass sich in jedem Fall ein klinisches Urteil darüber ergibt, ob der Kliniker eher eine Unter- oder Überbehandlung der Symptome eines Patienten riskieren möchte. In Anbetracht dessen, was wir über PNES wissen, sollten wir zu Recht besorgt sein, dass vielbeschäftigte Kliniker dazu neigen, das Vorhandensein von biologischen Bedürfnissen anzunehmen, auf Kosten der Sicherstellung, dass Patienten die emotionale und psychologische Betreuung erhalten, die sie für ihr Wohlbefinden benötigen.

O’Leary bringt die Diskussion über MUS auf wichtige Weise voran. Sie rahmt den Dialog so ein, dass wir eine sinnvolle Arbeit in diesem Bereich entwickeln können. Die Charakterisierung der Dichotomie zwischen psychogenen und biologischen Diagnosen hilft, wichtige Aspekte zu klären, auf die wir achten müssen. Allerdings muss die Ko-Präsenz von psychogenen und biologischen Symptomen anerkannt werden. Wenn diese beiden Komponenten wesentlich für die Krankheitslast verantwortlich sind, muss die „empirische“ Behandlung von Symptomen sorgfältig bewertet werden. Die ethische Analyse muss eine Kultur des „empirischen Behandelns“ angesichts diagnostischer Unsicherheit und der Tendenz, Symptome auf eine einzige kausale Erklärung zurückzuführen, berücksichtigen. Wenn Kliniker zu schnell Symptome nur entweder psychogenen oder biologischen Diagnosen zuschreiben, werden sie wichtige Aspekte ihrer Pflicht übersehen, Patienten als Ganzes zu behandeln.

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